Absurdistan war schon immer …

2015

 

Die Diskussionen der letzten Tage, wonach der Arbeitgeberpräsident Deutschland als Absurdistan bezeichnet hat, erinnerten mich an ein Gutachten, an dem ich mich "nur" als Student beteiligt hatte. Zunächst zum Vorwurf des BDA-Präsidenten: Eine Zeitung, die bestimmt nicht arbeitgeberfeindlich ist, die FAZ, findet den Tumult um die Arbeitsstättenverordnung scheinheilig (zu lesen hier). Nicht so scheinheilig handelten die, die unser Gutachten wohl so schlimm fanden, dass sie nicht einmal schrieben, was sie dachten. Es geht um die Lieblingsgröße der Lichttechnik, die Beleuchtungsstärke, und warum sie direktwegs ins Absurdistan führt.

In dem besagten Gutachten sollte eine neue tolle Idee umgesetzt werden, die ein Professor für Lichttechnik empirisch ermittelt hatte. Er wollte die Beleuchtung von Arbeitsstätten angenehmer machen, indem er ein wichtiges Problem beseitigen wollte: den Silhouetteneffekt. Dieser besteht darin, dass das Gesicht eines Menschen, der zwischen mir und einem Fenster vorbei geht, nicht gut erkennbar ist. So etwas nennt der Photograph Gegenlichtaufnahme und hellt das Gesicht vor dem Fenster auf, indem er mehr Licht darauf gibt. Genau das wollte unser Professor erreichen. Sein Experiment hatte gezeigt, dass man dazu so um 2.000 lx auf das Gesicht geben müsste. Ich denke, dass ein Fotograf auf eine ähnliche Größenordnung käme. Bei der Beleuchtung müsste man die 2.000 lx naturgemäß erhöhen, je näher man am Fenster ist. Macht der Fotograf auch.

Eine Behörde, die ihr neues Gebäude beleuchten wollte, hatte meinem Chef den Auftrag gegeben, eine Beleuchtung mit dieser Vorgabe zu planen. Ich strich alle Räume an, die 2.000 lx in Richtung Fenster bräuchten. Bei den Fluren müsste es natürlich mehr sein. Die Beamten der Behörde müssen sich echt in Absurdistan gefühlt haben, als einer ihnen erklärt hat, wie man vom Rauminnern 2.000 lx und mehr Richtung Fenster erzeugt. Heute würde man sagen, jede Menge Hardware. D.h., jede Menge Leuchten an die Wand gegenüber dem Fenster, damit man die Gesichter der Kollegen klar erkennen kann. Bis zum letzten Pickel.

Hätte ich damals an die Hardware gedacht, hätte ich den Griffel gleich fallen lassen. Doch unser Professor muss genau an die gedacht haben, denn er war Führungskraft bei einem Leuchtenhersteller. Die Konzentration auf die Beleuchtungsstärke hat mich vom Absurdistan abgelenkt. Das war 1972.

Da unsere Lehre nie veröffentlicht wurde, weil die Beamten der besagten Behörde feine Leute waren, mussten andere ihre Erfahrungen, so nennt man die Summe der Dummheiten, die man überlebt hat, selbst produzieren. So hat z.B. ein schwedischer Ergonome einem norwegischen Unternehmen empfohlen, die Mitarbeiter mit 4.000 lx auf dem Auge zu versorgen, damit sie sich gesund und wohl fühlen. Gesagt getan! An einigen Arbeitsplätzen wurden die 4.000 lx durch Stehleuchten erzeugt. Die mussten ca. 8.000 lx horizontal erzeugen, wie man leicht aus ihrer Position errechnen kann. Jede Menge Hardware, jede Menge Wärme. Arbeiten konnte man allerdings kaum noch. Das war 1995.

In Deutschland wollte ein Ausschuss gesundes Licht für alle Arbeitsplätze beschließen. Der Vorsitzende hatte vor, einen Zuschlag für Gesundheit auf die Beleuchtungsstärke am Arbeitsplatz als Kompensation für die Isolierung vom Tageslicht beschließen lassen. Ihm schwebten so 8.000 lx bis 10.000 lx vor, wie man im Jahre 1972 tatsächlich diskutiert hatte. Man wollte den lichten Tag nachahmen. Als ich dem hochverehrten Vorsitzenden vorrechnete, dass seine Werte im Winter in Hamburg nicht einmal auf der Alster erreicht würden, sagte er, darüber solle ich mir keinen Kopf machen. Das war im Jahr 2000.

Habe ich auch nicht. Die Hardware, mit der man 8.000 oder 10.000 lx fast blendfrei realisieren kann, und auch ohne große Wärmebelästigung, ist das Himmelsgewölbe, das viele Dutzend Kilometer hoch reicht und von einem Horizont zum anderen, ringsherum. Wenn ein Mensch in einer Bude mit einer Deckenhöhe von 2.30 m (in Bayern darf das eine Arbeitsstätte) oder 2.50 m sitzt, ist unschwer auszumalen, wie die Hardware für die 8.000 lx um ihn herum aussehen muss. Da wir neuerdings für gesundes Arbeiten auch Steh-/Sitztische einführen, sind ganze 65 cm zwischen seinem Schädel und der Decke als Platz für die Hardware vorhanden. Mal sehen, wer die installiert.

Alle, deren Ideen und Vorschläge, Taten ich angeführt habe, waren/sind im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte und in einer wohldotierten Position. Wie viele davon hätten ihre eigenen Vorstellungen ernst genommen, wenn sie anstelle von Beleuchtungsstärken die Anzahl der Leuchten im Sinn gehabt hätten? Absurdistan wurde nicht von einem Ministerium von oben herab verordnet. Es existiert schon sehr sehr lange. Und die Protagonisten sind keine Bürokraten oder Komiker. Auch wenn man zuweilen das Letztere anzunehmen geneigt wäre.

One Comment

  1. Antworten

    […] Wenn man so etwas wirklich realisiert, werden Gutachter für Ergonomie die besten Chancen für regelmäßige Aufträge von Betrieben bekommen. Bildschirmarbeit ade! Die Sorge ist allerdings ziemlich theoretischer Natur. Ein ähnliches Konzept mit einer hohen Beleuchtungsstärke mit waagrecht fliegenden Strahlen, dass einen Silhoutteneffekt vermeiden wollte, ging vor 50 Jahren derart arg in die Hose, dass selbst dessen Autor sich nie wieder dazu äußern wollte (hier). […]

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